Demokratie verteidigen, den sozialen Zusammenhalt stärken
17. Februar 2025
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Für eine Soziale Selbstverwaltung mit verfassungs­rechtlicher Garantie

© Verfasser: Peter Weiß, Berlin (Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen)

©: Heft 1, DRV Bund – März 2025

Die Erfahrungen mit den Sozialwahlen 2023 haben gezeigt, dass ein bloßes „Weiter so“ die Existenzberechtigung der Sozialen Selbstverwaltung des Sozialversicherungssystems in Deutschland einschließlich der Sozialwahlen auf Dauer gefährden wird. Daher sind grundlegende Überlegungen notwendig, um dieses bewährte System zu erhalten und zu stärken. In diesem Beitrag stellt der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Peter Weiß, seine Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Absicherung der Sozialen Selbstverwaltung vor.
Damit soll in der Gesellschaft, bei den Sozialpartnern und in der Politik ein Diskussionsprozess angestoßen werden, der zu einer neuen Verständigung über die Grundlagen der sozialen Sicherung und über Auftrag und Sinn einer Sozialen Selbstverwaltung führen soll. Der Vorschlag soll nicht nur diskutiert, sondern auch konkret aufgegriffen werden, damit in der kommenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestages dann auch entsprechende Entscheidungen getroffen werden können.

1. Einleitung

Die Sozialversicherungen sind mit ihren Leistungen und der Absicherung der großen Lebensrisiken Garanten des Sozialstaates. Das gegliederte Sozialversicherungssystem in Deutschland mit seinen Trägern der Arbeitslosen-, der Kranken-, der Renten- und der Unfallversicherung, die jeweils über eigene Selbstverwaltungsorgane verfügen, zeigt sich bis zum heutigen Tag als außergewöhnlich leistungsstark. Die Sozialversicherungsträger garantieren ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und sind tragende Säulen eines gut organisierten sozialen Netzes in Deutschland. Traditionell verfassen die Bundeswahlbeauftragten nach den alle sechs Jahre stattfindenden Sozialwahlen einen umfangreichen Schlussbericht zu ihren Sozialwahlen. Bundeswahlbeauftragter Peter Weiß und seine  Stellvertreterin Doris Barnett übergaben ihren Bericht zur Sozialwahl 2023 am 30. September 2024 an Bundesminister Hubertus Heil. In dem ebenfalls traditionellen Teil mit den Reformvorschlägen der Bundeswahlbeauftragten findet sich eine völlig neue Forderung, die bislang nicht erhoben wurde und die bei den Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter für große Aufmerksamkeit sorgt – die verfassungsrechtliche Absicherung der Sozialen Selbstverwaltung.

2. Zur Geschichte des deutschen Sozialversicherungssystems

Professor Michael Stolleis hat in seiner Ansprache während des Festaktes „125 Jahre gesetzliche Rentenversicherung“ am 2. Dezember 2014 im Berliner Abgeordnetenhaus eine gute Zusammenfassung  über die Geschichte des deutschen Sozialversicherungssystems gegeben. 1 Ende der 1870er-Jahre/Anfang der 1880erJahre arbeitete Reichskanzler Bismarck daran, die wichtigsten sozialen Probleme des frisch gegründeten Deutschen Reiches zu bewältigen. Hierfür mag es mehrere Gründe gegeben haben, doch das entscheidende Motiv bestand in seiner Furcht vor einem weiteren Anwachsen der
Sozialdemokratie.

Er wollte unbedingt verhindern, dass weitere Arbeiter „den Verlockungen der Sozialdemokratie“ erliegen. So entwickelte er einen Plan zur Einführung eines Sozialstaates, der in der Kaiserlichen Botschaft von 1881 beschrieben wurde. Bereits in dieser Botschaft war so etwas wie Selbstverwaltung angedeutet: „Der engere Anschluss an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der  letzteren Form korporativer Genossenschaften unter staatlichen Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde.“ 3

Die Industriearbeiter sollten von einer Zwangsversicherung erfasst werden, die das Krankenkassenwesen vereinheitlichen und dessen Effektivität steigern sollte. Die angedachte Absicherung von  Arbeitsunfällen war angesichts der damaligen Zustände in den Fabriken gerade für die Industriearbeiterschaft von größter Bedeutung. Hinzu kam die finanzielle Absicherung des Lebensabends als „Staatsrentner“. Bismarck orientierte sich damals am Modell Frankreichs. Daher sahen seine Pläne eine Finanzierung durch den Staat vor. So sagte Bismarck 1884 im Reichstag: „Der Staat muss die Sache in die Hand nehmen.“ 4

Dieser staatsorientierte Ansatz war damals durchaus auf der Höhe der politischen Diskussion. Aber: „Kein Gesetz verlässt das Parlament so, wie es hineingeht“, lautet das Strucksche Gesetz, benannt nach dem ehemaligen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck. Und was heute gilt, galt damals auch schon, wie Reichskanzler Bismarck feststellen musste. Die Ministerialverwaltung und die Industrie wollten unbedingt eine Versicherungslösung. Dieser Ansatz wurde im Reichstag auch vom Zentrum, den Konservativen und den Nationalliberalen unterstützt. Vor allem die Liberalen
befürchteten, dass der „Bismarcksche Staatssozialismus“ direkt in den Kommunismus münden würde. Auch die Sozialdemokraten waren skeptisch. Sie fürchteten, der konservative Staat könnte mit der von Bismarck vorgeschlagenen Lösung zu viel Macht über die Arbeiter erlangen. Um die Unabhängigkeit der sozialen Systeme vom Staat zu gewährleisten, kämpften Zentrum und Nationalliberale  gegen Staatszuschüsse. Sie wollten ein sich selbst tragendes System. Bei der Unfallversicherung waren sie erfolgreich. Bei der Rentenversicherung mussten sie jedoch die Einführung des Staatszuschusses hinnehmen. „Selbstverwaltung“ war damals modern. Nach der Niederlage gegen Napoleon im Jahr 1806 wurde in Preußen die kommunale Selbstverwaltung der Städte eingeführt.  Die Hochschulen erblühten aufgrund  ihrer  Selbstverwaltung und selbst die evangelischen Landeskirchen, dessen oberster Chef der jeweilige Landesfürst war, führten eine Art Selbstverwaltung ein. Auch andere Bereiche der Gesellschaft verordneten sich eine Selbstverwaltung. So bot es sich an, die neuen Sozialversicherungen ebenfalls mit dem „modernen“ Prinzip der Selbstverwaltung zu verbinden. Zudem bildete das Prinzip der Selbstverwaltung ein Gegengewicht zum System der Zwangsmitgliedschaft.  Zweifelsohne ein Höhepunkt staatlicher Anerkennung der Selbstverwaltung war ihre Verankerung in der Weimarer Reichsverfassung. Der Artikel 161 lautete: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten“.

3. Selbstverwaltung bei den Sozial­versicherungsträgern

Die Selbstverwaltung mit Repräsentanten der Versicherten und der Arbeitgeber ist heute ein unverzichtbares Strukturelement bei der Bundesagentur für Arbeit (Arbeitslosenversicherung) sowie bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Die Sozialversicherungsträger haben ganz wesentlich zum Erfolg des sozialen Netzes in Deutschland beigetragen. Ihre Verlässlichkeit basiert  auch auf dem Verantwortungsbewusstsein und dem Engagement der Selbstverwaltungen mit gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber. Die soziale  Selbstverwaltung bleibt auch weiterhin für die Zukunft ein Erfolgsrezept. Aber dazu müssen Selbstverwaltung und Sozialwahl moderner, offensiver und profilierter werden. Also: Sie müssen ihr etwas angestaubtes Image abstreifen und ihren Bekanntheitsgrad deutlich erhöhen. Für den langfristigen Bestand der Sozialen Selbstverwaltung ist entscheidend: Wird die Versicherung als eine  Versichertengemeinschaft oder lediglich als fremde Institution gesehen, an die man einen Teil des Lohnes abführen muss? Die Zukunft der Sozialen Selbstverwaltung hängt von der Frage ab, ob diese  bei den Versicherten wieder mehr Ansehen und Wertschätzung gewinnt. Mehr bürgerschaftliches Engagement, mehr Bürgerbeteiligung, mehr Demokratie – das sind die Forderungen unserer Zeit. Die  Soziale Selbstverwaltung macht all dies möglich. Doch sie muss ihr Potenzial auch in die Praxis umsetzen und ihr Wirken in die Öffentlichkeit tragen. Die Alternative zur Sozialen Selbstverwaltung wäre staatlicher Dirigismus oder gar eine reine Staatsversicherung. Ein weiteres Thema, das sich aufdrängt, ist die Frage der Kompetenzen der Sozialen Selbstverwaltung. Letztlich entscheidet sich an dieser  Frage ihre Zukunft. Es bedarf einer Trendumkehr, wie sie schon im Schlussberichtüber die Sozialwahlen 2011 der damalige Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Gerald Weiß, und sein Stellvertreter Klaus Kirschner gefordert haben: „Die Tendenz der letzten Jahrzehnte, die der Selbstverwaltung  zunehmend Kompetenzen entzogen hat, sollte gestoppt und umgekehrt werden. Der Selbstverwaltung sollten wieder mehr Rechte übertragen und diese damit gestärkt werden.“ Die politisch Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten sollten sich immer wieder klarmachen,  dass auch sie ein grundsätzliches Interesse an einer starken Selbstverwaltung haben. Viele Angelegenheiten des Verwaltungsalltags der Träger der Sozialversicherung fangen die Selbstverwaltungen auf. Die Politik kann froh sein, dass sie in diesen Fragen nicht die erste Ansprechperson ist. Die Politik sollte durch Akte der Wertschätzung deutlich machen, wie wichtig ihr das Engagement der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter ist. Zugleich müssen die Selbstverwaltungen dafür sorgen, dass ihre Arbeit in den eigenen Medien der Träger gebührend dargestellt wird. Die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungen beschließen über die Haushalte von aktuell 661 Milliarden Euro (zum Vergleich: der Deutsche Bundestag beschließt über einen Bundeshaushalt von 488 MilliardenEuro). Diese immense Finanzverantwortung zeigt die Bedeutung der Sozialen Selbstverwaltung. Daher der Vorschlag, in Anknüpfung an den Artikel 161 der Weimarer Reichsverfassung: Die Soziale Selbstverwaltung unbedingt im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich absichern!

4. Die Soziale Selbstverwaltung im verfassungsrechtlichen Rahmen

Die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung unterfällt der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Artikel 74 Absatz 1 Nummer  12 Grund gesetz). Da die Länder aber mit den berufsständischen Versorgungswerken oder dem Blindengeld allenfalls ansatzweise von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, soziale Risiken auf Landesebene abzusichern, sind die  maßgeblichen Regelungen der Sozialversicherung in Bundesgesetzen geregelt. Der Vollzug dieser Gesetze liegt allerdings nicht bei eigenen Behörden des Bundes. Strukturelles Kennzeichen der  Sozialversicherung ist vielmehr ihre Herauslösung aus der unmittelbaren Staatsverwaltung. Träger der Sozialversicherung und für den Gesetzesvollzug zuständig sind seit jeher selbstständige  Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel im Wesentlichen durch Beiträge ihrer Mitglieder aufbringen. Die Versicherten sind Mitglied der Träger der Sozialversicherung mit Rechten und Pflichten; sie sind also als versicherungspflichtige Beschäftigte zum Beispiel Mitglied der von ihnen gewählten Kranken- und Pflegekasse oder Mitglied eines Trägers der  Rentenversicherung. Körperschaftlichen Strukturen ist der Gedanke immanent, dass die Mitglieder der jeweiligen Körperschaft ihre eigenen Interessen in bestimmten Grenzen autonom wahrnehmen und regeln können. Artikel 161 der Weimarer Reichsverfassung brachte dies mit den klaren Worten zum Ausdruck, dass das soziale Versicherungswesen von „maßgeblicher Mitwirkung der Versicherten“ gekennzeichnet sein sollte. Es spricht nichts dafür, dass dieses strukturbildende Merkmal der „maßgeblichen Mitwirkung der Versicherten“ unter Geltung des Grundgesetzes „verwässert“ oder gar  aufgegeben werden sollte. Zur DNA der Sozialversicherung gehört ihre mitgliedschaftliche Struktur und damit auch der Gedanke, dass die Mitglieder ihre eigenen Angelegenheiten autonom gestalten. Körperschaftliche Strukturen setzen jedoch voraus, dass die Elemente autonomer Selbstbestimmung und der Mitsprache in eigenen Angelegenheiten so gewichtig sind, dass ein deutlicher Unterschied zur unmittelbaren Staatsverwaltung besteht, die derartige Mitsprache gerade nicht kennt.

5. Körperschaftliche Strukturen und Gestaltungsmöglichkeiten durch sicht­ und spürbare Satzungsauto­nomie: zwei Seiten einer Medaille

Als Instrument zur Regelung eigener Angelegenheiten verleiht der Gesetzgeber den Körperschaften Satzungsautonomie. Satzungen sind Rechtsvorschriften, die von einer dem Staat eingeordneten juristischen Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörenden und unterworfenen Personen erlassen werden. Mit der  Verleihung der Satzungsautonomie werden die in der Körperschaft zusammengeschlossenen Bürgerinnen und Bürger ermächtigt, durch die von ihnen demokratisch gewählten und gebildeten Organe ihre eigenen Angelegenheiten innerhalb eines von vornherein durch Wesen und Aufgabenstellung der Körperschaft begrenzten Bereichs selbst zu regeln. Die Verleihung von Satzungsautonomie hat – wie das Bundesverfassungsgericht ausführt – ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat daher niemals in Zweifel gezogen, dass sich der Autonomiegedanke sinnvoll in das System der  grundgesetzlichen Ordnung einfügt. Allerdings setzt die grundgesetzliche Ordnung der Verleihung und Ausübung von Satzungsgewalt Grenzen. Wo diese Grenze bei den verschiedenen autonomen Körperschaften, Anstalten und Verbänden jeweils verläuft,  ergibt sich unter anderem aus dem Aufgabenbereich der jeweiligen Körperschaft. Das Grundgesetz überträgt in erster Linie dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber, welche Gemeinschaftsinteressen so gewichtig sind, dass das Freiheitsrecht des Einzelnen zurücktreten muss. Wie weit die gesetzlichen Vorgaben ins Einzelne gehen müssen, hängt von dem jeweiligen Sachbereich, der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität des Grundrechtseingriffs ab.

Der Bundesgesetzgeber darf – daran besteht kein Zweifel – seine wesentlichen Aufgaben nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen. Das gilt besonders, wenn der Akt der Autonomieverleihung dem autonomen Verband nicht nur allgemein das Recht zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und zum Erlass der erforderlichen Organisationsnormen einräumt, sondern ihn – wie im Bereich der Sozialversicherung – zugleich zu Eingriffen in den Grundrechtsbereich ermächtigt. Dem staatlichen Gesetzgeber erwächst hier eine gesteigerte Verantwortung: Der verstärkten Geltungskraft der Grundrechte entspricht die besondere Bedeutung aller Akte staatlicher Gewaltausübung, welche die Verwirklichung und Begrenzung von Grundrechten um Gegenstand haben. Andererseits würden die Prinzipien der Selbstverwaltung und der Autonomie, die ebenfalls im demokratischen Prinzip wurzeln und die dem freiheitlichen Charakter unserer sozialen Ordnung entsprechen, nicht ernst genug genommen, wenn der Selbstgesetzgebung autonomer Körperschaften so starke Fesseln angelegt würden, dass ihr  Grundgedanke, die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen und ihren Sachverstand für die Findung „richtigen“ Rechts zu nutzen, nicht genügenden Spielraum fände. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt jedoch die Tendenz, dass der Bundesgesetzgeber zunehmend die Angelegenheiten der Mitglieder der Träger der Sozialversicherung bis in nahezu jedes Detail durch Bundesgesetz regelt und für satzungsrechtliche Mitsprache der Mitglieder allenfalls noch marginale Spielräume bleiben. Dies gilt insbesondere für diejenigen Bereiche, in denen die Regelungen der Sozialversicherung für die Mitglieder unmittelbar sicht- und spürbar werden: das Beitragsrecht und das Leistungsrecht. Die Beitragssätze der Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung werden durch Bundesgesetze oder Rechtsverordnungen des Bundes festgesetzt. Gleiches gilt für die Krankenversicherung mit der Ausnahme, dass Krankenkassen, die mit den dadurch erhobenen Beiträgen und den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen, durch Satzung einen Zusatzbeitrag erheben müssen und dieser kassenindividuell durch die Verwaltungsräte der Kassen festgelegt wird. Am größten sind die Gestaltungsmöglichkeiten insoweit noch in der  gesetzlichen Unfallversicherung, die den Beitragssatz nach satzungsrechtlichen Gefahrklassen erheben kann.

Im Bereich des Leistungsrechts sind die Ansprüche der Versicherten weitestgehend bundesgesetzlich geregelt, sieht man von der Möglichkeit ab, dass die Krankenkassen in der gesetzlichen  Krankenversicherung satzungsrechtlich Wahltarife anbieten können (§ 53 Sozialgesetzbuch V). Das Bundesverfassungsgericht führt daher mit Blick auf die Sozialversicherung zutreffend aus: „Die staatliche Regelungsdichte ist derart hoch, dass den Sozialversicherungsträgern eine eigenverantwortliche Gestaltung des Satzungs-, Organisations-, Beitrags- und Leistungsrechts weitgehend verwehrt ist.“ 10 Die Mitglieder der Körperschaften fragen sich also zu Recht: Was von dem, was die Selbstverwaltungsorgane der Träger der Sozial versicherung selbst regeln können, interessiert mich wirklich? Berührt mich dieser Regelungsbereich unmittelbar in meinen Beitragslasten oder beim Umfang der Leistungen, die mir bei Eintritt des Versicherungsfalles zustehen? Hat meine Stimme bei Sozialversicherungswahlen spürbaren Einfluss auf das, was meine Rechte und Pflichten angeht? Habe ich die Wahl etwa zwischen geringeren Leistungen, Selbstbehalten, begrenzter Auswahl an
Leistungserbringern und so weiter bei gleichzeitiger Verringerung meiner Beitragslast? Oder erhalte ich durch eine Körperschaft mit höheren Beiträgen spürbar bessere Leistungen?

6. Mehr Satzungsautonomie und damit mehr Demokratie wagen

Sozialversicherungswahlen sind Ausdruck des Demokratiegedankens: Einfluss nehmen, Mitreden und Mitgestalten durch die Wahl von Vertreterinnen und Vertretern der Interessen der Mitglieder. Wo
Vertreterinnen und Vertreter als Selbstverwaltungsorgane angesichts der bundesgesetzlich bis ins letzte Detail durchnormierten Materien nur noch Entscheidungen treffen können, die Wählerinnen und Wähler in ihrer Rechtssphäre nicht oder kaum berühren, und deren Bedeutung sich den Wählerinnen und Wählern angesichts der Komplexität der Sozialversicherung möglicherweise nicht mehr  erschließt, kommt die Frage auf: Weshalb soll ich „in der Sozialversicherung“ wählen gehen? Warum kann ich mich nicht für ein Amt in der Selbstverwaltung zur Verfügung stellen und anfangen? Worin
unterscheiden sich die zur Wahl stehenden Personen oder Gruppen oder „Wahlprogramme“ substanziell? Was können die sich zur Wahl stellenden Gruppen oder einzelne Personen – im Falle ihres  Obsiegens – bewirken und was habe ich davon? Wer auf diese Frage keine überzeugende Antwort geben kann, darf sich nicht über eine geringe Wahlbeteiligung bei den Sozialversicherungswahlen beklagen. Noch bedenklicher ist: Die Nachwahlbefragungen zur Sozialwahl 2023 haben gezeigt, dass bei den Versicherten kaum Wissen über die Soziale Selbstverwaltung vorhanden ist. Die Angelegenheiten, die in der Sozialversicherung jeden Tag aufs Neue zu regeln sind, haben jedoch das Potenzial interessanter Wahlkämpfe und für mehr Aufmerksamkeit. Welcher Bereich – außer demjenigen der Sozialversicherung – kann für sich in Anspruch nehmen, bei Beschäftigten in Form von Beiträgen der Beschäftigten und ihrer Arbeit geber auf 40 Prozent und mehr ihres Arbeitsertrages  zugreifen zu dürfen? Welcher Bereich sichert umfassenden Schutz bei Krankheit ab, koste es was es wolle? Die unzweifelhaft immense Bedeutung der Sozialversicherung für jeden  Einzelnen schlägt auf Sozialversicherungswahlen und die Aufmerksamkeit für die Arbeit der Selbstverwaltungsorgane aber nur dann durch, wenn der Bundesgesetzgeber dem satzungsautonomen Regelungsbereich wieder mehr Raum lässt. Dazu muss der Bundesgesetzgeber seine Regelungsmacht jedenfalls in Teilbereichen zurücknehmen und fakultativem Satzungsrecht partiellen Vorrang einräumen. Das heißt, Bundesrecht sollte in diesen Bereichen nur gelten, soweit die Selbstverwaltungsorgane keine eigenen Regelungen getroffen haben. Die Einrichtung funktionaler Selbstverwaltung
als Ausprägung des Demokratieprinzips des Artikels 20 Absatz 2 Grundgesetz mit dem Ziel der Verwirklichung der freien Selbstbestimmung darf zwar nicht dazu führen, dass der Gesetzgeber sich seiner Regelungsverantwortung völlig entäußert. Sie darf aber auch nicht zum Feigenblatt umfassender und nahezu lückenloser Bundesgesetzgebung degenerieren, wenn Selbstverwaltung Ausdruck  des Demokratiegedankens bleiben soll.

7. Vorschlag zum Schutz der Auto­nomie der Selbstverwaltungsorgane im Grundgesetz

Es ist verfassungsrechtlich zwar nicht zwingend erforderlich, den Trägern der Sozialversicherung die gleichen Rechte einzuräumenwie Hochschulen und Rundfunkanstaltenoder den Kommunen. Nicht  akzeptabelist es aber, dass ihnen im Hinblick auf dietreuhänderische Wahrnehmung von Versicherteninteressen weiterhin die Grundrechtsfähigkeit mit der Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde abgesprochen wird. Gerade das Finanzvolumen der Sozialversicherung lässt es aussichtslos erscheinen, dass es jedem einzelnen Mitglied möglich ist, sich gegen unzulässige Eingriffe in das Recht der Selbstverwaltung wirksam zur Wehr zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde einzelner Versicherter insoweit bisher nur für den Fall in Erwägung  gezogen, dass die Kasse des Versicherten durch gesetzliche Maßnahmen (wie zum Beispiel den Risikostrukturausgleich) den Beitragssatz anheben muss. 11 Den Trägern der Sozialversicherung als Treuhänder ihrer Versicherten muss daher sowohl auf der Ebene des einfachen Rechts wie auf der Ebene des Grundgesetzes der Rücken gestärkt werden. Sie müssen, soweit es um die Anliegen ihrer Mitglieder geht, mit eigenen Rechten ausgestattet werden, sodass sie in der Lage sind, sich im Interesse ihrer Mitglieder gegen Übergriffe anderer staatlicher Einrichtungen wirksam zur Wehr setzen zu  können. 12 

Dies auch im Sozialgerichtsgesetzklarzustellen, ist überfällig. Dort muss sinngemäß geregelt werden, dass den Trägern der Sozialversicherung der Rechtsweg gegen Akte anderer Träger hoheitlicher Gewalt eröffnet ist, soweit dadurch die von ihnen treuhänderisch wahrgenommenen Interessen oder Rechte ihrer Mitglieder betroffen sind. Vor allem muss aber im Grundgesetz die besondere Stellung
der Träger der Sozialversicherung als Treuhänder ihrer Mitglieder klar herausgestellt werden. Es muss deutlich werden, dass mit der im Grundgesetz getroffenen Entscheidung, die Sozialversicherung als mittelbare Staatsverwaltung auszugestalten, bereits auch eine Entscheidung für eine substanzielle Autonomie der Träger und ihrer Organe getroffen worden ist. Es ist angesichts der heutigen  Bedeutung der Sozialversicherung, nicht zuletzt auch als „Garant des sozialen Friedens“ in Deutschland, nicht mehr angemessen, im Selbstverwaltungsgrundsatz lediglich eine innerstaatliche Organisationsform der Dezentralisation zu erblicken. Artikel 87 Absatz 2 Grundgesetz ist daher um einen Satz zur Satzungsautonomie zu ergänzen. Dort muss sinngemäß klarstellt werden, dass die  Sozialversicherung in Form mittelbarer Staatverwaltung von Körperschaften und Anstalten mit dem Recht zu autonomer Rechtsetzung ausgeführt wird, soweit der Bundesgesetzgeber mit Rücksicht auf Grundrechte und den Grundsatz einheitlicher Lebensverhältnisse keine bundeseinheitlichen Regelungen zu treffen hat. Es liegt auf der Hand, dass viele, aber längst nicht alle Regelungen der  Sozialversicherung zwingend einheitlich für alle Bevölkerungsgruppen ausfallen müssen. Es gibt aber durchaus ein Bedürfnis der Versicherten und auch Spielräume, das Leistungsvolumen und
korrespondierend die Finanzierungskosten in einem weit größeren Umfang als bisher in die Hände der Versicherten und der von ihnen gewählten Organe der Selbstverwaltung zurückzugeben, wie auch die alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrates des GKV-Spitzenverbandes Dr. Susanne Wagenmann gemeinsam mit Uwe Klemens als Versichertenvertreter in einem Interview im April 2022 betonte: „Die Politik sollte der Selbstverwaltung mehr Entscheidungsspielraum lassen bzw. wieder zurückgeben, statt sie in ihren Kompetenzen zu beschneiden.“ 13 Dies stärkt zum einen den in der Selbstverwaltung angelegten Demokratiegedanken, zum anderen aber auch das Bewusstsein, selbst für die Entwicklung der jeweiligen Körperschaft, deren Leistungsfähigkeit und Ausgabenverhalten mit verantwortlich zu  sein. Eine umfangreichere Selbstverwaltung in zentralen Bereichen auch des Leistungs- und Beitragsrechts kann damit auch einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz und zur Nachhaltigkeit der Sozialversicherungssysteme leisten.

Anschrift des Verfassers:

© Peter Weiß
Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen
Taubenstraße 4–6
10117 Berlin

Den Artikel aus Heft 1 der DRV können Sie hier als PDF-Datei herunterladen.

Fußnoten:

1 Stolleis, Michael (2014): Rede anlässlich des Festaktes „125 Jahre gesetzliche Rentenversicherung“ im Berliner Abgeordnetenhaus. In: Deutsche Rentenversicherung 4/2014, 206–214.

2 1878, Reform der Gewerbeordnung durch Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck.

3 Vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Abteilung II, 1. Band, Nr. 9, 1881 November 17, Allerhöchste Botschaft Kaiser Wilhelm I. zur Eröffnung der I. Session des 5. Reichstags mit Bericht über die Eröffnung, Druckseite 64.

4 1884, Rede des Reichkanzlers Otto Fürst von Bismarck im Deutschen Reichstag, Druckseite 573.

5 Peter Struck war von 2005 bis 2009 Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Deutschen Bundestag; zum Struckschen Gesetz siehe zum Beispiel Deutscher Bundestag (2010) (Hrsg.): Der Weg eines Gesetzes, https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2010/32715751_gesetzgebung-204186 (zuletzt abgerufen am 12.02.2025); Das Struck‘sche Gesetz. In: Berliner Morgenpost, 20.12.2012, S. 3; „Im Übrigen gilt das strucksche Gesetz“. In: Der Spiegel 50/2022, S. 28; Das Strucksche Gesetz: Wie der Begriff entstand und was er bedeutet. In: vorwärts, 23.07.2024, https://vorwaerts.de/geschichte/das strucksche-gesetz-wie-der-begriff-entstand-und-was-er-bedeutet (zuletzt abgerufen am 12.02.2025).

6 Definition Selbstverwaltung heute: Verwaltung der eigenen Angelegenheiten gewisser Körperschaften des öffentlichen Rechts durch selbstständige und selbstverantwortliche eigene Organe und unabhängig von Weisungen übergeordneter staatlicher Behörden, aber unter Staatsaufsicht hinsichtlich Rechtmäßigkeit (nicht Zweckmäßigkeit) der verwaltenden Maßnahmen.

7 Der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungs wahlen (2012) (Hrsg.): Schlussbericht des Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen zu den Sozialwahlen 2011, S. 215.

8 BVerfGE 33, 125 (156 f.); 1, 91 (94); 10, 89 (102 ff.); 12, 319 (321 ff.); 15, 235 (240).

9 BVerfGE 33, 125 (158 f.).

10 BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2004 – 2 BvR 1248/03 –, Rn. 33–35.

11 BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 2018 – 1 BvR 1728/12 –, BVerfGE 149, 50–85, Rn. 88.

12 Vgl. zu wehrhaften Rechtspositionen der Sozialversicherungsträger durch die gesetzliche Zuerkennung des Körperschaftsstatus und der Zuweisung von Selbstverwaltung etwa BSG, Urteil vom  19.10.2023 – B 1 KR 22/22 R –, Rn. 34; BSG Urteil vom 18.05.2021 – B 1 A 2/20 R – BSGE 132, 114, Rn. 77; BSG Urteil vom 16.07.2019 – B 12 KR 6/18 R – BSGE 128, 277, Rn. 50.

13 GKV Spitzenverband (2022) (Hrsg.): „Die gesetzliche Krankenversicherung muss auch in Zukunft leistungsfähig und finanzierbar bleiben.“ In: 90 Prozent. Das E-Magazin des GKV-Spitzenverbandes, Ausgabe 27, April 2022, siehe https://www.gkv-90prozent.de/ausgabe/27/meldungen/27_interviewverwaltungsrat/27_interviewverwaltungsrat.html (zuletzt abgerufen am 12.02.2025).

 

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